Wolfgarten

Kaiser Karls „Wolfsgehege“?

Von Manfred Lang
nach Vorarbeit des Stadtarchivs Schleiden

Zeitreise in das Jahr 1983: Damals fand das neunte Treffen des Suzuki-Clubs, dem damals größten Geländewagenclub Westdeutschlands, in Wolfgarten statt. Archivbild: Stadtarchiv Schleiden


Eine Rodung mitten im Wald („metzen em Bösch“) war erst nur ein Hof, in dessen Backhaus eine kluge Wölfin Unterschlupf und Wärme für ihre Jungen fand, wuchs dann zum Dorf heran und wurde binnen weniger Jahrzehnte zum Fremdenverkehrsdorado im Kermeter – Wolfgartener „Männ“ verbargen sich vor Söldner-Pressern in abgelegenen Hütten

Schleiden-Wolfgarten – Vollständig von Wald („et litt em Bösch“) umgeben ist Wolfgarten („Wollefjaade“) nicht nur eins der schönsten Dörfer („Dörpe“) im Stadtgebiet Schleiden, es ist auch „das“ Dorf im Kermeter, einem der größten (33 km²) geschlossenen Laubwaldgebiete des Rheinlands.

Seit dem 1. Januar 2004 ist der Kermeter das Kerngebiet des Nationalparks Eifel. Legendär und auch überregional geschätzt war über Generationen das Wolfgartener Gasthaus und Wildrestaurant „Kermeter-Schänke“ der Familie Kruff. „Et Jäjendeel von nem »Kruffes«, wie me op Platt e onördentlich Jehöösch nennt…“ Beij Kruffs om Wollefjaade wohr ömme lecke jekauch, et joof e jood Jlas Bier unn Ilse onn Karl-Heinz Kruff hann »növebeij« ne Hoofe düchtije Liermädche unn Jonge ussjebeld.“

Höchste Erhebung im Kermeter ist eine namenlose Kuppe bei Wolfgarten, die bis 2017 von einem Aussichts- und Feuerwachturm „gekrönt“ wurde. Weitere Erhebungen im Kermeter sind Hellberg (525,8 m), Wildbretshügel (525,3 m) mit guten Aussichtsmöglichkeiten auf den Rurstausee, Theissenberg (522,4 m), Verbrannter Berg (516,2 m) mit Urwald, Winterberg (Wolfgarten) (503,4 m) mit Kermeterstollen, Mauelter Berg (502,4 m) früher mit Feuerwachturm und Sendeanlage, Honigberg (495,4 m) und Schweizer Berge, eine Schieferformation am Südostausläufer des Urftsees und Böttenbachsberg (466,6 m).

Unzweifelhaft hat der Ortsname „Wolfgarten“ mit dem gleichnamigen Raubtier (lat. Canis lupus) zu tun. Ob die Deutungen „Wolfsgehege“ für Wolfgarten und „Herrengatter“ für „Hergarten“ (heute Stadt Heimbach) des Bleibuirer Pfarrers und Chronisten Peter Oebbecke (1923) allerdings zutreffend sind?

  • Königspfalz in Vlatten

    Peter Oebbecke hielt beide Lokalitäten für uralte Jagdgatter Kaiser Karls des Großen und Ludwigs des Frommen, die im nahen Vlatten (heute Stadt Heimbach) eine Pfalz unterhielten und auf den Kermeterhöhen zur Jagd ausritten. Der häufig in Kreisjahrbüchern in Erscheinung tretende und aus Glehn stammende Autor und Regionalkenner Franz Heid („Heeds Fränz“) kommt im Euskirchener Kreisjahrbuch 1988 auf diese Variante zurück.

    Der Natur- und Nationalparkführer, Regionalkenner und Autor Dirk Küsters legt dem Namen „Wolfgarten“ eine andere – sagenhafte – Geschichte zugrunde, die volksetymologisch weit verbreitet ist: In einem 1554/55 von Burggraf Johann von Heimbach in seinen Pachtunterlagen bereits aufgeführten Hof „Wolffsgarden“ habe in einer „grimmig kalten Spätwinternacht“ eine Wölfin in der noch warmen Asche des Backhauses ihre Jungen zur Welt gebracht.

    In dieser Geschichte ist wenig vom allseits gefürchteten und gehassten Fabelwesen „Isegrim“ zu spüren, dem man in der Eifel unter anderem mit Fanggruben nachstellte, bis um die Wende zum 19. Jahrhundert der bislang letzte Wolf gefangen und getötet war.

    In der Legende wagt sich eine besonders schlaue Wölfin in die Nähe der Menschen, die dort oben „wild“ und abgelegen hausten, um im Umfeld ihres „Backes“ geschützt und gewärmt ihren Wurf zu „wölfen“. Die Wolfgartener leben zu der angenommenen Zeit vom Holzeinschlag und der Köhlerei, karger Landwirtschaft, Fuhrwirtschaft und einem bisschen oberflächlichem Eisensteinbergbau.

    In Kriegszeiten versteckten sich die Jungen und Männer in Fluchthütten am Hirschbach unweit der Huppenley, um nicht in umherziehende Söldnertruppen gepresst zu werden. Auf den Hof „Woulfgarden“ bezieht sich auch die „Sippe Wolfgarten“, die im Dorf schon Familientreffen abhielt und einen Gedenkstein besitzt.

    Zu ihr gehörten 1988 150 Mitglieder mit Nachnamen „Wolfgarten“ und 120 mit angeheirateten Familiennamen. Aus diesem Hof des „Peter uff dem Woulffsgaird“ habe sich im Laufe des 17./18. Jahrhunderts ein kleines Dorf entwickelt, schreibt Dirk Küsters in seiner Dokumentation „Das Kreuz von Wolfgarten“.

  • Großwildjagd mit Hemingway

    Ein Dorf, „dessen Einwohner von der Landwirtschaft, Spanndiensten und primitivem Bergbau lebten.“ Daran hat sich bis Anfang des 20. Jahrhunderts offenbar wenig geändert, wie der Wolfgartener Förster Anno Hecker 2008 im Euskirchener Kreisjahrbuch festhielt. Anno Hecker war früher Wildhüter an der Seite Patrick Hemingways für die englische Kolonialregierung in Afrika und seinerzeit einer der bekanntesten Einwohner Wolfgartens.

    Für seinen Bericht hat er den damals ältesten Einwohner interviewt, den 86-jährigen Franz Golbach. Er berichtete, dass das Dorf in seiner Jugend aus 17 Häusern bestand, Anfang des 21. Jahrhunderts seien es „hundert“ geworden. Franz Heid nennt 20 Jahre zuvor „schnack“ (exakt!) die Hälfte: 50 Häuser mit einem Ortskern um die alte Schule, die 1930 bis 1965 in Betrieb war. Kirche oder Kapelle besaß Wolfgarten nie. Dafür das einzige spätgotische Wegekreuz im Rheinland, dessen Geschichte der Landschaftsverband Rheinland 2020 die erwähnte 50-seitige Dokumentation Dirk Küsters widmete.

    In den Sockel sind drei Jahreszahlen eingemeißelt: „anno 1882 – erneuert 1949 – renoviert 2004“. Das legt zwar die Vermutung nahe, dass das Kreuz nach dem verheerenden Dorfbrand Ende des 19. Jahrhunderts errichtet wurde. Tatsächlich findet es sich bereits in weit älteren Quellen und auf Karten aus der Franzosenzeit als Fußfallkreuz in der Umgebung „wieder verschwundener Straßennamen“, so Küsters, wie „Unten im Dorff“, „Oben im Dorff“, „Am Strauch“, „In den Höfen“ und „Am Kreuz“.

    Die Familien von Wolfgarten hätten in Franz Golbachs Kindheit Anfang des 20. Jahrhunderts zwischen zehn und zwölf Kinder bekommen, allerdings auch wieder zwei oder drei durch eine gefürchtete Kleinkinderseuche („de Plooch“ = „die Plage“) verloren, schreibt Anno Hecker. Eine Familie Müller habe es geschafft, ihre sämtlichen 14 Kinder großzuziehen. Der Familienvater sei Holzfuhrmann gewesen, der mit sechs Pferden Buchenscheitholz zur „Degussa“ nach Schleiden-Oberhausen transportierte.

    „Alle Wolfgartener Kinder kamen zu Hause auf die Welt“ schreibt Hecker: Die Hebamme wurde per Bote aus Gemünd gerufen, sobald die Wehen einsetzten. „Lag jemand im Sterben, wurden von den Nachbarn die »Sieben Fußfälle« gebetet“, berichtete Franz Golbach dem aus Köln stammenden Jahrbuchautor. Die „Sebbe Fooßfäll“ sind ein Sterbebegleitritus aus der Volksfrömmigkeit, der als ausgestorben gilt.

    In den meisten Eifeldörfern wurde er von sieben unverheirateten Frauen verrichtet, die an sieben Gebetsstationen, meist Wegekreuzen im und ums Dorf, bestimmte Gebete verrichteten, auf die Knie sanken, also „ne Fooßfall dähte“, und immer wieder für einen seligen Übergang des Sterbenden in die ewige Herrlichkeit bei Gott flehten.

    Waren sie denn gestorben, wurden die Verstorbenen zu Hause aufgebahrt, abends wurde bei Ihnen „Totenwache“ („Duedewaach“) gehalten. Dabei soll es nicht immer nur tief religiös zugegangen sein. „Dued“ und „Sterve“, die letzten Dinge, haben im ripuarischen Dialekt ihre Begrifflichkeiten: Der Leichnam („Lich“) wurde früher nicht im Sarg („Kess“, „Laad“) aufgebahrt, sondern auf ein großes Brett („Schoof“) im Sterbehaus gelegt.

    „Häer lett över Erd“ war der früher gebräuchliche Ausdruck für diese Art der Aufbahrung. Die hinterbliebene Gattin hieß „Wettfrau“, der nunmehr alleinstehende Gatte „Wettmann“. Den Totenzettel, auf dem früher der Lebenslauf und meist ausschließlich die guten Eigenschaften des Verstorbenen aufgezählt wurden, hieß folgerichtig „Luchzöddel“.

    Am dritten Tag folgten bis zu hundert Dorfbewohner von Wolfgarten dem Pferdefuhrwerk auf dem Leichenzug nach Gemünd, „no Jemöngk, en de Kerch unn op de Kirchhoff“, zum Begräbnis. Vorsicht vor dem hochdeutschen Wort „bestatten“: „Bestaade“ bedeutet in der hiesigen Mundart „heiraten“.

    Nach der Beerdigung gab es Kaffee und Streuselkuchen zu Hause oder in einer Gaststätte. Mitunter wurde auch auf die Dahingeschiedenen angestoßen. „Et Fell versuffe“ hieß diese Sitte ziemlich derb („Fell versaufen“) in der Mundart. Der Brauch wurde ausnahmslos von Männern ausgeübt und von Frauen als Unsitte verachtet. Anno Hecker berichtet von einem Wolfgartener Leichenschmaus im Gemünder Hotel Klaphake, bei dem zehn „Hinterbliebene“ 170 Gläser Bier nebst diversen Schnäpsen verputzt haben sollen.

  • Zwei Tote beim großen Brand

    Die Einwohnerzahl des Dorfes wuchs von 1771 bis 1850 von 53 auf 150. 1798 kam der selbstständige Weiler zu Gemünd, blieb aber kirchlich zunächst bei Heimbach, so Franz Heid. Am 6. April 1882 – es war die Nacht auf Gründonnerstag – brannten elf Häuser ab, fast die Hälfte aller Behausungen. Dazu sechs Stallungen und drei Scheunen. Eine Katastrophe. Zwei Menschen verloren ihr Leben, Maria Gertrud Dahmen (73) und ihre 27-jährige Tochter Gertrud.

    Weitere zehn Familien wurden obdachlos und mussten bei Verwandten in umliegenden Dörfern unterkommen. Dirk Küsters führt sie in seiner Dokumentation auf: Bernhard Merzenich (Hausnummer 13), Peter Müller (12), Wilhelm Schorn (17), Paul Wilhelm Müller (7), Hubert Wilhelm Girgel (9), Paul Körner (14), Johann Wergen (16), Wilhelm Frohn (18), Johann Wilhelm Breuer (6) und Wilhelm Wirtz (19).

    Bürgermeister Kleinen von Gemünd meldet dem Landrat Clemens August Freiherr von Harff: „Gestern Abend gegen 6 Uhr ist im Orte Wolfgarten Feuer ausgebrochen, welches sich bei starkem Ostwinde so schnell ausbreitete, dass bevor Hülfe geleistet werden konnte, dreizehn Häuser mit Zubehörungen total zerstört worden sind. Das Feuer ist in dem Hause des Tagelöhners Hubert Dahmen entstanden, in welchem nur die alte Frau und eine erwachsene Tochter anwesend waren.“

    „Letztere kam brennend aus dem Hause gelaufen, während es da nur im Wohnzimmer erst brannte“, heißt es weiter im Rapport: „Das Mädchen ist im Laufe der Nacht gestorben. Während man vermuthete, die Frau Dahmen sei in einem anderen Hause, ist dieselbe heute früh in der Scheune zu ihrem Hause verkohlt liegend gefunden worden.“

    Über die Brandursache stellt der Bürgermeister Vermutungen an: „Es sollen die Kleider des Mädchens am Ofen Feuer gefangen haben und da in dem Wohnzimmer zwei Betten gestanden, fand das Feuer reichlich Nahrung in den größtenteils mit Stroh gedeckten Nachbarhäusern. Die herbeigeeilte Hülfe konnte sich bei dem Mangel an Wasser nur auf die Sicherung der noch nicht vom Brande ergriffenen Gebäude beschränken, da bei den in Brand begriffenen Häusern nichts mehr zu retten war.“

    Alle Häuser waren damals bereits gegen Feuer versichert, eine Hausratversicherung für das vernichtete Mobiliar besaßen allerdings nur fünf Familien. Die Brandursache bleibt laut Stadtarchiv letztlich unbekannt.

    Wie die Wasserversorgung bei der Brandbekämpfung aussah, ist nicht überliefert. Zu der Zeit besaß fast jedes Haus in Wolfgarten einen eigenen Ziehbrunnen mit Eimer. Wäsche gewaschen wurde am Pützbenden, Laken und Tücher wurden auf der angrenzenden Wiese gebleicht. Erst um 1935 wurde eine Wasserleitung nach Wolfgarten verlegt.

  • Vom „büsche“ und „büerschte“

    Zur Kirmes besuchten die Wolfgartener im Oktober Gemünd oder Wollseifen. „Dreiborn wurde gemieden“, so Franz Golbachs Erinnerungen: „Wer well seng Knauche hahle janz, der bliev witt fott vom Buuredanz“. Wer nach Kirmesbällen auf körperliche Unversehrtheit hofft, sollte den Feierlichkeiten der „Drommerter“ Agrarökonomen besser fernbleiben.

    Eine Anspielung der seinerzeit nicht nur auf der Dreiborner Hochfläche praktizierten Kirmesschlägereien. Anlass gaben oft Rivalitäten in amourösen Dingen, aber Ortsfremde waren generell „verdächtig“ und gefährdet. Die verbale Aufforderung zur körperlichen Auseinandersetzung klang zunächst fürsorglich: „Dohn de Brell uss, mir john für de Dühr“.

    Also nicht im Schankraum oder auf der Tanzfläche wurde „jeklopp“, „jedreische“, „vekamesöölt“, „jetuback“ unn „jebüsch“, sondern draußen an der frischen Luft, wo auch kein Glas und Mobiliar zu Bruch gehen konnte. „Büsche“ für „schlagen“ („mir hann oss jebüsch“) darf man nie mit „büeschte“ (wörtlich „bürsten“) verwechseln, denn „jebüersch“ bezeichnet eine völlig anders gelagerte Form menschlicher Begegnung…

    Seit der Kommunalen Neugliederung 1972 gehört Wolfgarten als eine von 18 Ortschaften zur neugeschaffenen Stadt Schleiden. Stand Juni 2019 hatte das Dorf 216 Einwohner. In den vergangenen Jahrzehnten wurden zahlreiche Einfamilienhäuser von Neubürgern errichtet. Infrastruktur ist bis auf Ortsstraßen, Wanderwege, Spielplatz und Dorfhäuschen kaum vorhanden. Den alten Ortskern markiert das Dreiecksplätzchen mit zwei (ursprünglich drei) Linden und dem erwähnten „Kreuz von Wolfgarten“, das seit Jahrzehnten von den Eheleuten Hildegard und Siegfried Wergen in Ordnung gehalten wird. Der Christuskorpus wurde vom Landschaftsverband in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts datiert. Wie eine Untersuchung ergab, hing er bis um 1900 nicht im Freien, sondern an einem wind- und wettergeschützten Ort.

    Wolfgarten ist ein für den Tourismus ausgesprochen attraktiver Anlaufpunkt und Aufenthaltsort. Davon zeugen die zahlreichen Wanderwege, vor allem der „Wildnis-Trail“, und Ferienwohnungen. Die Einwohner selbst haben sich im Bürgerverein „Dorfgemeinschaft Wolfgarten e. V.“ organisiert. 2020 wurde das Dorfgemeinschaftshaus in Eigenleistung fertiggestellt.

    Auch die erwähnte Sippe Wolfgarten hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Verein organisiert. Die Mitglieder führen ihren Ursprung auf Familien zurück, die aus dem Ort Wolfgarten stammen – sie tragen den Namen selbst oder haben „eingeheiratet“. Es gibt regelmäßige Treffen, 1970 wurde ein Sippen- und Festbuch herausgegeben und ein Sippengedenkstein gesetzt.